Inklusion – jetzt auch in der Oberstufe

J. Laux im Interview mit der ersten blinden Schülerin an der Willy-Brandt-Gesamtschule.

 

 

Dem einen oder anderen ist sie schon aufgefallen. Eine junge Frau mit einem Blindenstock, die von einem jungen Mann durch das Schulgebäude geführt wird. Büsra C. ist 19 Jahre alt und die erste blinde Schülerin der WillyBrandt-Gesamtschule (WBG). Der junge Mann ist Semih Ö., der ein freiwilliges soziales Jahr absolviert und Büsra als Integrationshelfer zur Seite steht. Nachdem der Start ins neue Schuljahr, der für Büsra und Semih, aber auch für alle Mitschülerinnen und Mitschüler und alle Büsra unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer eine Premiere darstellt, geglückt ist, wollen wir Büsra kurz vorstellen:

Büsra ist 1994 in Ingolstadt geboren und in Ingolstadt und später in Lenting aufgewachsen. Dort besuchte sie das Sehbehindertenzentrum in Unterschleißheim. Mit 18 zog sie alleine nach Düren, lebte in einem Wohnheim für blinde Menschen und besuchte dort die Louis-Braille-Schule, eine Förderschule für Blinde und Sehbehinderte, und machte dort ihre Fachoberschulreife mit Qualifikation (FORQ). Seit diesem Schuljahr besucht sie den 11. Jahrgang unserer Schule, um hier das Abitur zu machen.

 

WBG: Warum wolltest Du unbedingt an einer Regelschule das Abitur machen?

 

Büsra: Ich wollte nicht auf ein Gymnasium für Blinde, weil ich auch im späteren Leben nicht immer unter Blinden sein werde. Außerdem ist es mir wichtig, dass Blinde und Sehende, Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenleben und Behinderte nicht abgelehnt oder ausgegrenzt werden. Anders als manche Blinde, die nur mit Blinden befreundet sein wollen, weil nur diese Verständnis für ihre Behinderung haben, sehe ich im gemeinsamen Unterricht und Inklusion eine Möglichkeit zur Integration und Akzeptanz behinderter Menschen. Außerdem möchte ich trotz meiner Behinderung ein normales Leben führen.

 

WBG: Wieso hast Du gerade die Willy-Brandt-Gesamtschule gewählt?

 

Büsra: Nachdem für mich feststand, dass ich mein Abitur an einer normalen Schule machen wollte, habe ich mich zuerst bei Gymnasien beworben, dort hätte ich aber wegen G8 (Schulzeitverkürzung auf zwölf Jahre am Gymnasium) die zehnte Klasse wiederholen müssen. Als ich dann erfuhr, dass man in Nordrhein-Westfalen das Abitur auch an Gesamtschulen, welche es in Bayern nicht gibt, in 13 Jahren machen kann, war für mich klar, dass ich mein Abitur an einer Gesamtschule machen will. Daraufhin habe ich mich bei fast allen Gesamtschulen im Raum Köln beworben. Die WBG war dann die erste Gesamtschule, die sich auf das Experiment einer blinden Schülerin in der Oberstufe einlassen wollte.

 

WBG: Wie unterscheidet sich die WBG von einer Blindenschule und wie gestaltet sich Dein Schulalltag?

 

Büsra: Alles ist hier viel größer als in der Blindenschule; sowohl das Gebäude wie auch die Klassen und Kurse. An der Louis-Braille-Schule waren wir nur zu siebt in einer Klasse während hier in den Kursen zumeist 20 bis 25 Schüler sitzen.

Aber auch das Schulgebäude ist viel größer und unübersichtlicher. Die Orientierung im Gebäude ist für mich sehr schwierig, da  – anders als in einer Schule für Sehbehinderte – die Räume und Gänge nicht in Brailleschrift (Blindenschrift) gekennzeichnet sind. Deshalb bin ich im Gebäude auf Hilfe angewiesen. Im Regelfall führt mich Semih zu den Räumen, manchmal aber auch meine Mitschüler. Ich hoffe aber, dass ich mich später auch allein orientieren kann.
Ein weiterer Unterschied ist, dass es in einer Blindenschule keine Tafeln gibt, alles wird diktiert und es gibt die Arbeitsblätter in digitaler Form auf einem USB-Stick.

Hier müssen sich die Lehrerinnen und Lehrer noch daran gewöhnen, dass ich nichts sehen kann und dass Arbeitsblätter und Unterrichtsmaterialien deshalb in digitaler Form vorliegen müssen. Dies führt manchmal zu lustigen Situationen, etwa wenn ein Lehrer versucht mir etwas auf dem Bildschirm meines Laptops zu zeigen und erst dann realisiert, dass ich nicht sehen kann. Auch schreiben immer noch Lehrerinnen und Lehrer etwas an die Tafel, ohne für mich genau zu erklären, was an der Tafel steht. Allerdings klappt es im Unterricht immer besser, weil sich alle zunehmend daran gewöhnen, eine blinde Schülerin zu unterrichten. Probleme gibt es manchmal mit den Unterrichtsmaterialien, es sind immer noch nicht alle Schulbücher eingescannt, in Mathe habe ich nur ein Kapitel, im Fach Biologie wurde das falsche Buch digitalisiert und in Pädagogik ist das Buch zwar eingescannt, wurde aber noch nicht benutzt.

Auch wenn wir uns zu Gruppenarbeiten zusammensetzen sollen, warte ich immer bis sich jemand zu mir setzt, da ich immer meinen Laptop mitschleppen müsste, was für mich schwierig ist.

 

WBG: Ist das eigentlich ein spezieller Laptop, den Du benutzt?

 

Büsra: Nein, eigentlich ist das ein ganz normaler und handelsüblicher Laptop, der allerdings neben der normalen Tastatur über eine Braille-Zeile verfügt, so dass ich Texte lesen, aber auch selber verfassen kann. Außerdem verfügt über spezielle eine Sprachsoftware für Blinde, die es mir erlaubt, mir die Texte vorlesen zu lassen und  mich mit Hilfe der Cursortasten im Text zu orientieren. Außerdem gibt es eine Suchfunktion für Wörter. Ich kann mir Texte entweder vorlesen lassen oder diese mit der Braille-Zeile selber lesen. Meistens lasse ich mir die Texte lieber vorlesen, bei schwierigen Texten lese ich diese aber selber, weil man die Texte dann besser versteht.

 

WBG: Schule besteht ja nicht nur aus Unterricht, sondern ist ja auch ein soziales System. Wie bewertest Du vor diesem Hintergrund Deinen Start an der WBG?

 

Büsra: Am Anfang bestand – wahrscheinlich weil ich die erste und einzige blinde Schülerin an dieser Schule bin – eine große Hemmschwelle; sowohl von meiner Seite aus, als auch von Seiten der Mitschüler und Lehrer. Viele hatten wohl auch Angst etwas falsch zu machen oder etwas Falsches zu sagen.

Vielleicht bestand aber auch am Anfang wenig Kontakt zu meinen Mitschülerinnen und Mitschülern, weil ich ja immer nach dem Unterricht von Semih abgeholt werde. Die Pausen verbringe ich immer noch meistens mit Semih.

Allerdings hat sich die Hemmschwelle auch schon abgebaut. Manchmal setze ich mich in den Pausen auch zu meinen Mitschülern und wir unterhalten uns. Außerdem sind alle sehr nett zu mir und sehr hilfsbereit.

 

WBG: Jetzt wollen natürlich viele wissen, wie es überhaupt ist, blind zu sein. Und natürlich auch, wie die Lebenssituation und der Alltag einer Blinden aussehen.

 

Büsra: Aufgrund eines Gendefektes bin ich von Geburt an blind; das heißt nicht, dass ich jetzt in absoluter Dunkelheit lebe, sondern ich kann schon Unterschiede zwischen Hell und Dunkel wahrnehmen. Allerdings kann ich quasi nur konturlose Schatten wahrnehmen und  keine Figuren, Formen oder Umrisse. Daher bin gezwungen, mich mit den Händen zu orientieren. Trotzdem lebe ich allein in meiner eigenen kleinen Wohnung in Köln-Ehrenfeld. Innerhalb der Wohnung komme ich gut allein zurecht, dort brauche ich lediglich Hilfe beim Einkaufen. Um zur Schule zu kommen, bin ich auf das Taxi angewiesen.

 

WBG: Was machst Du in Deiner Freizeit?

 

Büsra: In meiner Freizeit mache ich genau die gleichen Dinge wie viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich geh gern Shoppen, besonders liebe ich es Schmuck zu kaufen. Ich chatte auch gern und treffe Freunde. Mein Freundeskreis ist gemischt, das heißt, er besteht aus Blinden und Sehenden. Das ist mir auch wichtig, denn ich möchte ja ein ganz normales Leben führen. Außerdem gucke ich, was man bei einer Blinden vielleicht nicht direkt erwartet, gerne Filme oder Fernsehen. Wenn ich diese mit sehenden Freunden gemeinsam gucke, lasse ich mir schon mal beschreiben, was man gerade sieht. Es ist aber auch durchaus möglich, der Handlung eines Films zu folgen, wenn man nur die Dialoge und die Geräusche des Films hört. Außerdem gibt es manchmal Fassungen für Blinde, wo das Geschehen im Bild beschrieben wird.

Ansonsten schreibe ich in meiner Freizeit auch Geschichten und Gedichte. Ich habe auch angefangen, Gitarre zu lernen, allerdings habe ich das in letzter Zeit etwas schleifen lassen. Ich sollte mal wieder üben.

 

WBG: Wie sehen Deine Pläne nach dem Abitur aus?

 

Büsra: Nach dem Abitur möchte ich Pädagogik oder Psychologie studieren. Vor allem Psychologie finde ich sehr interessant.

 

WBG: Liebe Büsra, vielen Dank für das Gespräch.